Insellicht # 14
Die Vergangenheit ruht nie – sie wartet, bis es an der Zeit ist uns zu begegnen.
Was bisher geschah:
Dina hat am Strand Bang kennengelernt – ein Treffen, das sich anfühlte wie ein Versprechen. Die Stunden vergingen wie im Flug, und als sie sich verabschiedeten, nahm Bang sie in die Arme und drückte ihr seine Nummer in die Hand.
⚓️
November. Schwarze Wolken türmten sich auf über der Javasee, der Wind heulte durch die rostigen Streben des alten Fischkutters. Die See war aufgewühlt, die Wellen schlugen schwer gegen den Rumpf, als wollten sie das Boot verschlucken. Die Sicht war miserabel. Gischt peitschte über das Deck. Unter Deck roch es nach Metall, Öl und feuchtem Holz. Victor tauchte aus der Ladeluke auf, klitschnass, mit verkniffenem Gesicht. Er schrie gegen den Wind an: „Die Ladung ist nicht gut gesichert. Wir sind überladen, Shuren!“ Shuren, Hände fest am Steuer, reagierte nicht sofort. Sein Blick war starr auf den Kompass gerichtet, das Gesicht angespannt, kontrolliert. Seine Stimme war ruhig, aber schneidend:„Du bist für die Sicherung der Ladung zuständig.“
Victor presste die Lippen zusammen. Er kannte seinen Freund Shuren gut genug, um zu wissen, dass jede Diskussion sinnlos war. Der Mann war bei der Marine gewesen, hatte Stürme erlebt, die schlimmer waren als das hier. Aber diesmal war es anders. Das Boot war schwer – zu schwer. Und was sie transportieren, war nicht einfach Fisch oder Werkzeuge. Es war Gold, tief verpackt unter Tarnladung, gestaut in Kisten, Säcken und Fässern.
Victor sah die Ladung vor sich, wie sie sich schon beim ersten Stampfer bewegt hatte – rutschte, knirschte, drohte das Gleichgewicht des Bootes zu kippen. Der Sturm war nicht vorhergesagt worden, aber sie hätten es wissen müssen. Eine besonders hohe Welle schlug über das Deck. Wasser drang durch die Luken. Das Boot knarzte, als würde es unter dem Gewicht ächzen. „Wir verlieren sie, wenn wir nicht umdrehen!“ rief Victor. Shuren schüttelte den Kopf. „Zu spät zum Umkehren. Wir bringen sie zur Raffinerie. Wie immer.“ Doch das hier war nicht wie immer. Der Himmel war zu schwarz, das Boot zu alt, die Ladung zu schwer. Ein kurzer Blick zwischen den Männern – Misstrauen, Angst, Stolz. Dann: ein Ruck. Das Schiff legte sich plötzlich stark nach Steuerbord. Die Ladung verschob sich. Ein Knall unter Deck. Etwas war gebrochen. Shuren fluchte leise. Victor rannte wieder hinunter. Draußen bäumte sich das Meer weiter auf. Von ihrer Ladung hingen viele Existenzen ab. Sie konnte die Zukunft sichern. Oder das Ende bedeuten. Und sie waren allein. Keine Hilfe in Sicht. Keine patrouillierenden Schiffe vom Küstenschutz - nicht hier. Hier war nur der Sturm und meterhohe Wellen, die sich vor den beiden Männern auftürmten.
Die salzige Brise vom Meer strich über Victors Gesicht, als er die Augen öffnete. Das Tosen der Wellen vermischte sich mit dem leisen Murmeln der Zeremonie, den monotonen Gesängen, dem fernen Klang eines Gongs. Der Rauch vom Räucherwerk kräuselte sich in die warme Luft, vermischte sich mit dem Duft von Sandelholz und Meer. Victor war Anfang Vierzig, aber in seinen Augen lag etwas, das älter wirkte – ein Blick, der viel gesehen hatte, zu viel vielleicht. Seine Haut war sonnengebräunt, rau von Salz, Wind und tropischer Sonne, gezeichnet vom Leben auf See. Ein Mann, der das Meer kannte wie andere ihre Nachbarschaft. Seine schulterlangen, blonden Locken, oft vom Salzwasser zerzaust, hatte er heute zum ersten Mal seit Langem gebändigt – locker nach hinten gebunden mit einem schlichten Lederband. Trotz seiner Herkunft aus einem fernen Land – man hörte es in seinem amerikanischen Akzent, der auch nach Jahren in Südostasien nicht ganz verschwunden war – fügte er sich an diesem Tag respektvoll in die Rituale und Sitten der cahayanischen Trauerkultur ein.
Er trug ein weißes Hemd aus leichter Baumwolle, frisch gewaschen, die Ärmel aufgerollt, aber ordentlich. Um seine Hüften war ein traditioneller Kain geschlungen, ein indonesischer Wickelrock in gedeckten Farben, wie es der Anlass verlangte. Über der Schulter ruhte ein schmaler, feierlicher Schal, das Saput, das auf Cahaya zu solchen Zeremonien getragen wurde – ein Zeichen der Achtung gegenüber dem Verstorbenen.
Barfuß stand er im Sand, der feuchte Boden unter seinen Füßen, als Zeichen der Erdverbundenheit. Kein Schmuck, keine Uhr – nur ein dünnes, abgewetztes Lederband an seinem Handgelenk, das er nie abnahm.
Vor ihm kniend zwei Priester in weißen Gewändern, ein goldbestickter Schirm hielt die Sonne ab. Auf einem geflochtenen Bambusteller ruhte eine kleine Urne, umringt von Blumen. Die letzte Spur von Shuren – seinem Freund, seinem Kapitän.
Victor fühlt sich leer. Und schuldig.
Schuldig, weil er es nicht verhindern konnte.
Schuldig, weil er es vielleicht doch hätte verhindern können.
Sein Blick glitt zu Huifen, der Frau von Shuren. Sie und ihre Tocher Lianhua trugen ein traditionelles Kebaya in schlichtem Weiss. Das Haar von Huifen war streng zurückgebunden, das Gesicht eine Maske der Beherrschung. Neben ihrer Tocher stand ihr Sohn Mingtian, vielleicht sechs Jahre alt, mit großen dunklen Augen, in denen sich etwas regte, das zu groß war für ein Kind: Verlust. Unverständnis. Stille.
Victor schluckte schwer. Warum lebte er und Shuren nicht? Shuren, der keine großen Worte machte, der immer so distanziert wirkte – aber Victor wusste, wie sehr er seine Familie liebte. Wie seine Augen weicher wurden, wenn er über seinen Sohn Mingtian sprach. Wie seine Stimme fast unmerklich zitterte, wenn er über Huifen sprach – nie direkt, immer in Nebensätzen, in Schweigen.
Wehmütig dachte Victor an seinen eigenen Sohn. Bambi. Er war ein wenig jünger als Mingtian. Ein wildes, lebendiges Kind mit einem offenen Lachen und blonden Locken, die vom Wind zerzaust waren wie Unkraut im Sommer.
Sein Sohn. Den er zurückgelassen hat.
Die Erinnerung stach. An Bambi. Und an seine Mutter – die Lehrerin aus Dowon, mit den ernsten, rehbraunen Augen und dem weichen Herzen. Victor erinnerte sich an den Moment als er zum ersten Mal in diese Augen geblickt hatte, wie ein Donner hatte ihn dieser Blick getroffen - und er erinnerte sich an den Blick dieser rehbraunen Augen an dem Tag als er sie und das Baby zurückließ um das Schiff zu besteigen auf dem er angeheuert hatte.
Victor hat sich für das Meer entschieden. Für die Freiheit. Für das Schweigen der Wellen über dem Geschrei der Verantwortung. Shuren hingegen – sein Freund Shuren blieb. Er war ein Fels.
Und jetzt trugen sie seine Asche zurück in die See.
Ein Gong erklang. Die Urne wurde geöffnet, die Asche wurde freigegeben – vom Wind erfasst, verweht über dem Meer. Die Wellen nahmen ihn auf. Ohne ein Wort. Ohne Gnade.
Victor senkte den Blick. Es herrschte Stille um sie herum, nur das Rauschen der Wellen, die sich am Strand brachen war zu hören.
Victor hob den Kopf wieder und sein Blick schweifte über die versammelten Gesichter – gebräunt von der Sonne, gezeichnet von der Arbeit, ernst in der Stille des Moments. Männer mit schwieligen Händen, Frauen mit vom Quecksilber rissiger Haut, alte und junge Gesichter – alle versammelt, um Shuren die letzte Ehre zu erweisen. Es war kein glänzendes Gold, das sie hierher geführt hatte, sondern eine viel tiefere Bindung: Respekt, Freundschaft und Gemeinschaft. Viele von ihnen hatten nicht nur einen Freund verloren – sie hatten ihr Vertrauen, ihre Hoffnung und einen Teil ihrer Zukunft mit in die Tiefe der See geschickt. Die Fracht, die Shuren und Victor transportiert hatten, war mehr als nur Metall. Es war das Resultat harter, gefährlicher Arbeit. Gold, das aus giftigem Schlamm geschürft wurde, mit bloßen Händen, unter Einsatz der Gesundheit, oft im Verborgenen, fern jeder Absicherung. Illegal, ja – aber notwendig für viele, um ihre Familien zu ernähren, um das Überleben auf Cahaya zu sichern.
Seit Generationen wurde auf Cahaya Gold gewaschen, doch mit der Verdrängung traditioneller Landwirtschaft und dem wachsenden globalen Bedarf hatte sich die Bedeutung gewandelt. Heute war das Gold Fluch und Segen zugleich. Das Quecksilber, das in provisorischen Becken die winzigen Goldpartikel aus dem Sediment holte, hinterließ seine Spuren. Und doch machten sie weiter. Weil sie mussten. Und obwohl es nun so war, dass viele in der Menge auf dieses eine Schiff gesetzt hatten – auf diesen Transport, der das Gold aus ihrer verborgenen Welt in den legalen Wirtschaftskreislauf bringen sollte –, war niemand wütend. Keine Stimme erhob sich gegen Victor. Kein zorniger Blick, kein Vorwurf. Der Verlust von Shuren wog schwerer. Seine ruhige Stärke, sein fester Handschlag, sein Lächeln, das nur selten kam, aber echt war. Das ließ sich nicht ersetzen. Gold schon.
Victor fühlte es. Die Stille sagte mehr als jedes Wort. Es war Vergebung - unausgesprochen.
Und zugleich eine Bitte: Mach es wieder gut.
Victor presst die Lippen zusammen.
Ein bitterer Entschluss reifte in ihm – geboren aus Schuld, aus Scham… und aus Verantwortung. Er würde das wieder in Ordnung bringen. Shuren konnte er nicht zurückholen, aber sein Vermächtnis durfte nicht in den Wellen ertrinken.
Er würde einen neuen Kutter finden.
Sicherer. Schneller.
Und die Transporte wieder aufnehmen – diskret, gefährlich, aber notwendig.
Nicht für sich. Für die Menschen hier. Für Huifen. Für Lianhua und für Mingtian.
Er sah zu Huifen. Ihre Schultern trugen mehr, als sie tragen sollte – und dennoch stand sie aufrecht. Daneben die Kinder Lianhua und Mingtian, still, beobachtend, ahnungslos, dass heute nicht nur ihr Vater dem Meer übergeben wurde, sondern auch ein Teil ihrer Kindheit. Victor spürte den Kloß in seinem Hals, den das Salz der See nicht lösen konnte.
Er musste nach Dowon.
Bambi.
So lange hatte er seinen eigenen Sohn nur aus der Ferne gesehen – auf einem vergilbten Foto, mit Eselsohren und Fingerabdrücken. In den Briefen der Mutter, die kürzer und seltener wurden. In den Träumen, die zu selten kamen.
Jetzt… war es an der Zeit.
Nicht auf Papier. Nicht im Kopf.
Er musste seinem Sohn und der Verantwortung in die Augen sehen.
Und er musste das Goldgeschäft hier auf Cahaya, zusammen mit Huifen, in die Hand nehmen. Nicht wegen des Goldes.
Wegen Shuren.
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Na, da habe ich doch so einige Vermutungen. 🤔🤔
Und da haben wir die Verbindung zwischen Victor, Mingtian und Bang. Wow. Richtig gut!